
© Marta Urbanelis
Ehrlich gesagt habe ich während meiner Schulzeit einen großen Bogen um Gedichte, Haikus, ach eigentlich um alle sich reimenden Worte gemacht. Vielleicht lag es daran, dass man als Schüler irgendeinen kryptischen Text vorgelegt bekommt, in dem der Lehrer eine geistige Tiefe entdeckt hat, die einen selbst jedoch nicht deutlich wird.
Dass ich mich jetzt, Jahre später, für poetische Texte interessiere, habe ich der lockerflockigen Pop-Poetin Julia Engelmann zu verdanken. Was mein damaliger Deutschlehrer in unzähligen Unterrichtsstunden einfach nicht geschafft hat, hat sie in nur wenigen Minuten vollbracht.
Denn ihre Texte haben mich gefunden!
Mit Sicherheit kennt ihr das populäre Video von ihrem Slam “One Day”, das, nachdem ein Blogger es auf Facebook geteilt hat, sie in kürzester Zeit berühmt gemacht hat.
Nur zur Erinnerung und weil es einfach so schön ist, hier ist es noch mal:
Jetzt muss ich euch gestehen, dass ich diesen Beitrag knapp ein Jahr auf meinem Desktop liegen hatte. Denn ich traf Julia Engelmann auf der letzten Frankfurter Buchmesse und habe mich eine ganze Weile mit ihr unterhalten. Oder besser gesagt, ich habe ich zugehört. Es war einfach großartig und das Gespräch wirkt bis heute nach. Selten habe ich so eine inspirierende Person getroffen.
Nach unzähligen einfach nur unzufriedenstellenden Entwürfen habe ich diesen Beitrag erst einmal auf Eis gelegt. Es sollte einfach nicht passen. Doch nun habe ich das Gefühl, dass der richtige Zeitpunkt gekommen ist.
Also, los geht’s …
In den letzten zwei Jahren hat sich Julia Engelmanns Leben komplett gedreht. Nach zwei Bestsellern erscheint im nächsten Monat bereits ihr drittes Buch “JETZT, BABY” (im Goldmann Verlag), nebenbei schreibt sie erfolgreich für den Stern und hat sogar in der Bestsellerverfilmung “Ich bin dann mal weg” eine Nebenrolle übernommen. Auf ihren Erfolg angesprochen, wirkt sie verlegen, bleibt bescheiden und zurückhaltend. Anfangs hatte sie keine Vorstellung davon, was da mit ihr passiert und wo das Ganze hinführen wird. Auch jetzt, einige Monate später, findet sie es immer noch unglaublich. Um es mit ihren Worten auszudrücken: “Surreal, aber schön. Sehr schön.”
Dass sich ihr Leben mit dieser plötzlichen Aufmerksamkeit verändern wird, hat sie sich gedacht, für eine Weile vielleicht. Aber nicht dass noch so viel passieren würde.
In den ersten Wochen nach dem Facebook-/YouTube-Hype erreichten sie unzählige eMails und Angebote. Darunter auch Anfragen von Verlagen. Zugesagt hat sie nicht sofort, da sie sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sicher war, wo sie hin will. Sie hat sich Zeit gelassen und dann gespürt, dass dies genau der richtige Weg ist. Da sie immer schon unglaublich Lust hatte, ein Buch zu veröffentlichen, lag die Idee nicht allzu fern. Es passte einfach.
Ihre Bücher umfassen gesammelte Werke und sind ein Mix aus alten und neuen “Sachen”. Ein Haiku aus dem zweiten Buch ist zum Beispiel schon über fünf Jahre alt, das jüngste wenige Monate. Es ist die Mischung aus dem Vergangenem und dem noch Gegenwärtigen, die das Herausgeben für sie so spannend macht. Für Julia ist es wie eine Art Bestandsaufnahme. “Was denke ich gerade, was fühle ich jetzt.”
Auf die Fragen, ob sie ein Lieblingsstück hat, antwortete sie: “Da bin ich wie eine Mutter, die nicht sagen kann, das ist mein Lieblingskind. Ich glaube, man kann alle seine Kinder lieben. Ich habe alle gleich gerne.”
“Haikus zu schreiben, hat was cooles.”
Julia Engelmann
Und doch gibt es da eins, das ihr besonders am Herzen liegt. Denn sie hat dieses Stück in einem Rutsch durchgeschrieben, was sie bis dahin noch nie gemacht hat: Den Achillesvers.
In ihren Gedichten und Texten gibt sie viel von ihrer Seele und ihren Ängsten preis. Dinge, die man eigentlich lieber für sich im Geheimen halten möchte. “Im ersten Moment ist es schon schwierig, das öffentlich vorzutragen, weil man nicht weiß, was passiert. Anderseits habe ich nur gute Erfahrungen gemacht und ich denke auch, dass es jeden so gehen würde, der ehrlich ist. Deswegen finde ich es gar nicht schwer. Es ist etwas total Schönes, was Befreiendes und einfach was Gutes.”
Bevor ich Julia Engelmann traf, habe ich bei meiner Recherche einen Kommentar von einem Rentner entdeckt, der einen Auftritt von ihr live erlebt hat. Im Netz schrieb er anschließend, dass sie ihm mit ihren Texten einen Spiegel vorgehalten hat und er sich nun fest vorgenommen habe, mehr im Jetzt zu leben und nichts auf morgen zu verschieben.
Diesen berührenden Kommentar las ich ihr vor und auf die Frage, was sie bei diesem Lob empfindet, antwortete sie Folgendes:
“Dankbarkeit.
Ich finde, es ist ein unglaublich großes Geschenk, wenn eine Person meine Gedanken nah an sich heranlässt und dieses Lob dann auch noch teilt. Ich bekomme dadurch unfassbar viel zurück. Es ist ein schönes Geben und Nehmen. Wenn ich meinen Teil dazu beitrage, dass andere Personen ehrlich mit sich sind, dann bin ich wahnsinnig stolz.
Ich glaube, es könnte so unglaublich viel Unglück verhindern, wenn Leute einfach nur gut und ehrlich zu sich wären.”
Anfang 2014, kurz nach dem ganzen Internetwahnsinn, begleitete sie Tim Bendzko auf seiner Tournee. Ihre Einlagen stießen auf so viel Zustimmung, dass sie 2015 einfach ganz alleine auf Tour ging. Aktuell steht sie wieder in den Startlöchern, denn Ende Oktober geht ihre Reise quer durch Deutschland weiter (→ Tickets)
“Ich hatte gerade erst mal kapiert, dass sich ein paar Leute dieses Video gesehen haben und schon habe ich in einem Tourbus gepennt und bin vor Tausenden Leuten aufgetreten.”
Julia Engelmann
Und zum Schluss stellte ich ihr eine Frage, dessen Antwort euch vielleicht ein bisschen zeigt, was ein Gespräch mit ihr für Auswirkungen auf ihr Gegenüber hat. Warum ich diesen Text erst heute veröffentliche und nicht schon viel früher. Denn ich habe auch jetzt immer noch das Gefühl, dass mein Text einfach noch nicht gut genug ist und nicht annähernd das Gefühl einfängt, das dieses Gespräch begleitet hat. Obwohl Julia Engelmann ganz normale Worte benutzt, drückt ihre Sprache, ihre rhythmische Kraft, so viel mehr aus.
Ich lass das Gesagte jetzt einfach Mal so stehen und überlasse euch jetzt die letzte Frage:
Aber ist es nicht gerade das Schwierige, dass wir alles sein können?
Alles sein kann bedeuten, mein Leben kann jede Form annehmen.
Ich kann sowohl Surflehrer auf Hawaii sein als auch Hip-Hopper. Mein Leben kann jede Form haben.
Das ist die eine Seite.
Das andere ist, ich kann jede Art von Mensch sein, der ich sein möchte.
Das ist das, womit ich mich beschäftige und was wirklich wichtig ist. Weil ich denke, die Form im Leben und die Sachen die passieren, die kann ich beeinflussen, aber nicht immer. Das kann sich ändern.Viel wichtiger für mich ist, dass ich, wenn ich glücklich sein will, das auch sein kann. Wenn ich für mich gut genug sein will, dann kann ich das auch. Wenn ich ein liebevoller offener und ehrlicher Mensch sein will, egal was jemand anderes sagt oder macht, dann kann ich auch das. Und das wiederum finde ich nicht schwierig. Wenn ich weiß, wer ich sein will, dann kann ich es auch werden.
Ich finde, es ist eine allgemeine … mmmh, Krankheit ist ein böses Wort … eine allgemeine Baustelle. Dass ich fast niemanden kenne, der sagt: Ich finde, ich BIN gut genug.
Man macht sich immer so klein, man vergleicht sich. Doch das sollte man nicht tun. Warum vergleicht man sich mit anderen Leuten, die andere Leben führen? Warum denn? Man muss auch nicht immer denken, was andere denken, was ich sein sollte.
Jeder kann sich selbst genügen. Jeder kann zufrieden sein, mit dem was er hat, sogar sehr zufrieden, denn das ist nicht selbstverständlich, sogar was Besonderes. Die Schwierigkeiten dieser Tage ist schon dass wir jede Form annehmen können. Die Grenze zu setzen, NEIN zu sagen und Genügsamkeit zu lernen, ist ein große Herausforderung.
Aber ich denke, das kann man auch und ich finde, das ist gar nicht so schwierig, sondern eine richtig gute Nachricht.
Julia Engelmann, im Oktober 2015